Programmwerkstatt

Fr, 6. Januar 2023 – 20:15 ics

Programmwerkstatt
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die programmwerkstatt bietet raum um gemeinsam fragen nachzugehen wie, was hat programm mit werkstatt zu tun? und was mit improvisation? oder mit selbstorganisation? und lässt sich programm kollektivieren? oder gar de-programmieren? de-kolonialsieren? feministisch gestalten?

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Dekonstruktion und Free Jazz, Teil 2
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(ein tag vor dem gescheiterten duo zwischen Ornette Coleman und Jacques Derrida (der einen text vorlesen wollte, während Ornette improvisierte, aber ausgebuht wurde) im La Vilette, 1997 hat zweiteren ersteren interviewt (The Other's Language: Jacques Derrida interviews Ornette Coleman, 23 June 1997). dabei haben sie herausgefunden, dass sie ihre jeweilige vorstellung von improvisation teilen, nämlich dass diese jenseits einer binären und metaphysischen (eurozentrischen) logik, nämlich der unterscheidung zwischen geschrieben und spontan, liegt. diese unterscheidung würde nämlich die freie improvisation nicht frei machen, sondern an die negation von komposition fesseln. das entscheidende der improvisation ist nämlich nach Derrida und Ornette nicht das erstmalige, spontane, sondern die wiederholung (!) (des ereignis), bzw. wie Derrida sagen würde, die de-kon-struktion (wiederholend glauben, kämpfen und zweifeln für die möglichkeit) des ereignis von freiheit (Free Jazz). und Ornette weiter: das sogenannte spontane, unerprobte ergebe noch keine freiheit, sondern einschränkung, un-freiheit. schreiben und ereignis, regeln und freie improvisation sind einander nicht entgegengesetzt, sondern gehen auseinander hervor, insofern nicht nur die komposition, sondern auch das ereignis die möglichkeit der wiederholung strukturell voraussetzt. dieser gedanke gefährdet oder besser gesagt, verkompliziert das konzept der improvisation: die wiederholung liegt schon in der improvisation. es gibt also eine wiederholung, die dem ereignis der ursprünglichen kreation zueigen ist. die de-kon-struktion bzw. freie improvisation setzt das offene, das kommende voraus, weil die musik, die es zu kreieren gilt, im kommen ist (The Shape of Jazz to Come).)

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wie letztes mal möchten wir uns in der kommenden programmwerkstatt mit unserem verständnis von IMPROVISATION beschäftigen. entlang von Ornette Colemans und Jacques Derridas begrifflichkeiten diskutieren wir, wie «frei» mit «demokratisch» zusammenhängt (was meinen wir selber, wenn wir diese verbindung benützen, um das politische in der musik auszudrücken?) und welche möglichkeiten und bedingungen impliziert das überhaupt? dazu werden wir die von Roland Borgards aufgestellten thesen anhand eines interviews von Jacques Derrida mit Ornette Coleman (Dekonstruktion und Free Jazz, 1997. in: Improvisation und Invention: Momente, Modelle, Medien, 2014, Hrsg. Sandro Zanett) zu hilfe nehmen. für Coleman und Derria bietet die improvisation nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein politisches modell, weil es aus einem kollektiven handeln entsteht, das sich horizontal, nicht vertikal organisiert. die improvisation wird so zum prozess einer kollektiven verständigung auf ein gemeinsames projekt, was auch das politische modell demokratie impliziert:

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1. Im traditionellen Schema ruht die Komposition auf der Autorität des Komponisten, die Improvisation hingegen auf dem Spielraum der Improvisierenden. Herrschaft steht gegen Freiheit; der Jazzmusiker widersetzt sich dem Komponisten wie der Revolutionär dem Monarchen:

»[L]e musicien de jazz est probablement la seule personne pour laquelle le compositeur n’est pas un individu très intéressant, dans le sens où il préfère détruire ce que le compositeur écrit ou dit« (Coleman, Derrida 1997a, 38). »[D]er Jazzmusiker [ist] wahrscheinlich der einzige Musiker […], für den der Komponist kein sehr interessantes Individuum darstellt. Er zieht es vor, zu zerstören, was der Komponist sagt oder schreibt« (Coleman, Derrida 1997b, 39).

Oder anders formuliert: »Pour moi la musique n’a pas de chef« (Coleman, Derrida 1997a, 38). »Für mich hat die Musik keinen Chef« (Coleman, Derrida 1997b, 40). Insofern verfolgen die Musik, die Improvisation und insbesondere der Free Jazz ein politisches Programm: »perturber cette ›monarchie‹« (so Derrida in einer Interviewfrage an Coleman: Coleman, Derrida 1997a, 40). Das traditionelle Schema setzt also Souveränität gegen Demokratie; es stellt die unteilbare Entscheidungsmacht eines Einzelnen (→ Derrida 2009, 302) gegen, so formuliert es Derrida mit Kant, »jedermanns Freiheit« (Derrida 2003, 132).

2. In der Geschichte der politischen Theorie ist auch dieser Gegensatz mit Wertungen versehen worden. Für Hobbes etwa ist ›jedermanns Freiheit‹ gleichbedeutend mit dem ›Krieg aller gegen alle‹; als Rettung vor dieser Gefahr entwirft er ein theoretisches Verfahren der absoluten Machtkonzentration im souveränen Herrscher.

3. Diese Wertung ist – seit dem 18. Jahrhundert – umgekehrt worden, und dies mit dem Hinweis auf den Despotismus und die Tyrannei, zu denen die absolutistische Machtkonzentration führen kann. Als Rettung vor dem Despotismus entwirft etwa Rousseau sein theoretisches Verfahren einer kollektiven Willensbildung.

4. Die Umkehrung der Werte führt indes nicht aus dem zugrunde liegenden Schema heraus. Dies zeigt sich z.B., so Derrida in Anschluss an Benjamin, angesichts der modernen, demokratisch legitimierten Institution der Polizei, die »auf erschlichene Weise und im [V]erborgenen Gesetze macht« und damit jede Form einer kollektiven Verständigung auf ein gemeinsames Projekt unterläuft:

»Doppelte Schlußfolgerung und doppelte (inbegriffene) Verwicklung: 1. Die Demokratie ist eine Entartung des Rechts und der Rechtsgewalt. 2. Es gibt noch keine Demokratie, die ihres Namens würdig ist. Die Demokratie bleibt im Kommen: sie muß noch erzeugt oder erneuert, regeneriert werden« (Derrida 1991, 96–97).

5. Die Skizze einer »kommenden Demokratie« (Derrida 2003, 123) begnügt sich deshalb nicht mit der Umkehrung der Werte. Sie beginnt vielmehr mit dem Hinweis, dass »alle einschlägigen […] Theoreme des abendländischen politischen Denkens […], angefangen mit denen der Demokratie und Souveränität« (141), vom »Recht des Stärkeren« (ebd.) durchzogen sind und dass der gängige Gegensatz zwischen den beiden Modellen politischer Vergemeinschaftung dort an Schärfe verliert, wo beide Modelle konstitutiv mit der »Verbindung von Recht, Gerechtigkeit und Gewalt« (131) zu tun haben. Die Unschärfe des Gegensatzes ermöglicht zum einen den kritischen »Widerspruch gegen jede naive oder mißbräuchliche Rhetorik, die als gegenwärtige oder faktisch bestehende Demokratie ausgibt, was dem demokratischen Anspruch in der Nähe oder Ferne, zu Hause oder in der Welt, unangemessen bleibt« (123). Zum anderen ist diese Unschärfe zugleich auch der Ausgangspunkt für den Entwurf der »kommenden Demokratie«, die ihrerseits in großer konzeptioneller Nähe zu den dekonstruktiven Fassungen der Improvisation und des Free Jazz steht. Wie die Improvisation, so ist auch die Demokratie für Derrida eine Frage des Kämpfens, Glaubens und Zweifelns:

»Der Ausdruck ›kommende Demokratie‹ steht […] für eine kämpferische und schrankenlose politische Kritik. […] Das ›Kommende‹ [l’ ›à venir‹] bezeichnet nicht nur das Versprechen, sondern auch, daß die Demokratie niemals existieren wird im Sinne von gegenwärtiger Existenz: nicht nur weil sie aufgeschoben wird, sondern auch weil sie in ihrer Struktur stets aporetisch bleiben wird« (123–124).

Dieser Zweifel ist weder depressiv noch sentimental noch elitär; er ist aktivistisch, er aktiviert, setzt in Aktion; er ist zukunftsgerichtet, futuristisch; und er bindet schlichtweg alle als mögliche Mitspieler ein, er gilt »jedem, irgendwem […] (vor jeder metaphysischen Bestimmung des ›Irgendwer‹ als Subjekt)« (123). Wie Derridas Demokratie, so integriert auch Colemans Konzept von Musik, in der Komposition und Improvisation auseinander hervorgehen, jedweden:

»Je crois vraiment que quiconque essaie de s’exprimer par les mots, par la poésie, sous n’importe quelle forme, peut prendre mon livre d’harmolodie et composer d’après lui« (Coleman, Derrida 1997a, 38). »Ich glaube wirklich, daß jeder beliebige Mensch, der sich durch Worte ausdrücken will – durch Poesie gleich welcher Art – nach meinem Buch mit der Harmolodie komponieren kann« (Coleman, Derrida 1997b, 40).

Und wie die Improvisation, so ist auch die kommende Demokratie auf »ein anderes Denken des Ereignisses« (Derrida 2003, 124) angewiesen und zugleich auf ein »quite different thinking of liberty« (Derrida 2009, 301). Freiheit ist in diesem anderen Denken nicht die Voraussetzung, aus der Demokratie hervorgeht, sondern das Korrelat einer, mit Coleman gesprochen, »limitation«; sie ist Effekt eines kollektiven Spiels in einem gemeinsamen Raum. Damit treffen sich Demokratie und Improvisation schließlich in der Frage des Tons, der sich durch eine stets mögliche ironische Distanz zu den eigenen Setzungen auszeichnet:

»Gibt die Demokratie nicht auch das Recht zur Ironie im öffentlichen Raum? Ja, sie öffnet den öffentlichen Raum, die Öffentlichkeit des öffentlichen Raums, indem sie zum Wechsel der Töne berechtigt, zur Ironie wie zur Fiktion, zum Trugbild, zum Geheimnis, zur Literatur usw. […] Sobald dieses Recht gilt, besteht eine demokratische Republik [und ereignet sich Improvisation, RB]. Ich glaube immer noch, daß diese Unentscheidbarkeit, welche die Demokratie ebenso einräumt wie die Freiheit selbst [und wie die Improvisation, RB], die einzige radikale Entscheidungsmöglichkeit darstellt, die einzige Möglichkeit, das Kommende und ›den‹ Kommenden, das Ankommen des Ankommenden, (performativ) geschehen zu lassen [faire advenir] oder eher (metaperformativ) als Geschehen zuzulassen [laisser advenir].« (Derrida 2003, 131)

Derridas Einverständnis mit Coleman ist deshalb nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein politisches, das gegen die Herrschaft eines globalisierten Kapitalismus (→ Coleman, Derrida 1997a, 39–40) auf ein »événement sans prix« (Derrida 1997, 41), auf ein »priceless event« (42) setzt, als welches sich die Improvisation und die Demokratie in ihren dekonstruktiven Fassungen ankündigen. Wer in diesem Sinne improvisiert, der übt sich zugleich in der kommenden Demokratie. Improvisieren ist Arbeit an der Zukunft.

6. Und wieder kann die Analyse von diesem Punkt aus zwei Richtungen nehmen: einerseits eine historische, die danach fragt, wie die kommende Demokratie in ihrer improvisatorischen Struktur schon in der Souveränität selbst und in der überkommenen Demokratie wirksam war (was sich z.B. im Zuge einer Analyse von Heinrich von Kleists politischen Schriften und Dramen zeigen ließe); andererseits eine utopische, die Hinweise auf eine kommende theoretische Praxis gibt, die das neue Denken der Improvisation in die eigenen Verfahren integriert.

fr 6.1.2023
20:15
werkstatt für improvisierte musik
magnustrasse 5
zürich

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